Alltag ist der Zustand, nach dem mein Herz sich sehnt.Strebt die ganze Welt nach Abenteuer, Individualität und Abwechslung, kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als meine Schulter an deine zu lehnen, in das Kaminfeuer zu schauen und bei murmelnden Gesprächen einzuschlafen. Nichts ist vollkommener als der Gedanke, friedlich in einen milden Morgen zu erwachen, im Bademantel in eine nach frischem Kaffee riechende Küche zu kommen und so gemächlich wie ich es möchte Marmelade auf einem Toast zu verteilen. Das ist Perfektion.
Dieser Wunsch erinnert mich daran, was ich so oft vergesse: dass ich 8 Milliarden Jahre alt bin. Und wenn es mir wieder einfällt, kann ich nicht atmen, mich nicht bewegen, nicht lachen und nicht weinen, weil die Zeit mich lähmt. Weil das Alter mich so hart zu Boden wirft, dass es sich anfühlt, als könne ich mich nie wieder erheben.
Und wenn mein Geist am Boden dümpelt, frage ich mich, wie du das schaffst. Wie du dich überhaupt noch rühren kannst, unter der Last an Erinnerungen, die dich zu jeder Sekunde flutet. Wie du überhaupt sprechen kannst, wo doch die Geister alter Leben so munter durch deinen müden Kopf tanzen und traurige Lieder singen.
Nein, ich bin nicht wie du. Auch wenn wir gleich alt sind, auch wenn wir uns an dasselbe erinnern. Wenn die Vergangenheit ein Meer ist, in dem du schwimmst, bin ich der Urlauber, der einen Zeh hineinhält, hin und wieder im Seichten watet. Doch ich kann es verlassen, wenn ich möchte.
In der Vergangenheit bin ich nur Gast. Sie ist nicht mein Gefängnis, nicht mein Heim und nicht mein Meer. Nur wenn ich träume, tauche ich vollends ein. Mit Haut und Haar. Und komme ich wieder zu mir, hängen die Erinnerungen meist so schwer an meinem Körper, dass es lange dauert, bis sie abgetropft sind, und ich mich entsinne, dass es nie wieder so sein wird. Nie wieder.
Am Ende des Tages sind es die letzten Momente all unserer Leben, die kurz vor dem Schlaf kunterbunt in meinen Gedanken flackern. Diese Minuten, in denen wir gemeinsam allen Regeln und Plänen des Systems trotzten, um existieren zu können. Diese Sekunden, in denen wir einsamer und zugleich verbundener waren als zu jeder anderen Zeit.
Wir haben unsere müden Glieder auf einen Hügel aus so dickem Moos gebettet, dass wir tief darin einsinken. Durch das Blätterdach der hohen Bäume fallen nur wenige Sonnenstrahlen, verfangen sich in deinem grauweißen Haar. Du hast mir bunte Blumen in das meine geflochten, bevor wir uns zur Ruhe gebettet haben. Du hast mir mit zittriger Stimme aus deinem Lieblingsbuch vorgelesen und ich habe an unsere Kinder gedacht. An unsere Enkel, Urenkel und Ururenkel.
Jetzt sind wir zu alt, um uns dem Zerren des Systems noch zu widersetzen. Wenn die Wächter uns jetzt jagen, dann haben wir ihnen nichts mehr entgegenzubringen.
Wir verlassen dieses Leben also. In Stille und in Frieden.
Dein Atem geht so flach, dass ich mich frage, ob ich ihn mir nur einbilde, ob meine alten Augen mir einen Streich spielen. Aber das Lächeln. Das Lächeln auf deinen Zügen erreicht sogar noch deine geschlossenen Lider und ich wünsche mir für nur eine Sekunde, für immer dahinscheiden zu können. Das würde es so vollkommen machen, dieses Ende.
Das Wissen darum, dass es endgültig ist.
Weltasche. Kapitel 27.